Anhörung im Bundesverfassungsgericht

Erstmals wird der Bundesverband der Berufsbetreuer*innen (BdB) als sachkundiger Dritter im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe angehört. Das Thema hat Brisanz: Es geht um ärztliche Zwangsmaßnahmen in Einrichtungen, in denen Betroffene leben und medizinisch versorgt werden können.

Stellungnahme zu ambulanten ärztlichen Zwangsmaßnahmen

Neben dem BdB sind neun wei­te­re Insti­tu­tio­nen gela­den, unter ande­rem die Bun­des­ärz­te­kam­mer. Der BdB-Geschäfts­füh­rer Dr. Harald Fre­ter: „Wir wer­ten dies als Aner­ken­nung unse­rer Exper­ti­se durch das höchs­te Gericht.“

Interesse der Mehrheit vs. Leid des Einzelnen

Zwangs­be­hand­lun­gen dür­fen nur vor­ge­nom­men wer­den, wenn sie zum Schutz des Betrof­fe­nen vor schwe­ren gesund­heit­li­chen Schä­den bis hin zum Tod uner­läss­lich sind und der Betrof­fe­ne die Not­wen­dig­keit krank­heits­be­dingt nicht erken­nen kann. Aktu­ell ist die Durch­füh­rung nur in Kran­ken­häu­sern erlaubt, da dort eine adäqua­te medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung und ggf. erfor­der­li­che Nach­be­hand­lun­gen gewähr­leis­tet sind. Das Gericht prüft, ob Zwangs­be­hand­lun­gen zukünf­tig in Aus­nah­me­fäl­len auch außer­halb von Kran­ken­häu­sern in einem ambu­lan­ten Kon­text zuläs­sig sein sol­len, wenn auch dort eine aus­rei­chen­de medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung gewähr­leis­tet ist. Hin­ter­grund sind gesund­heit­li­che Nach­tei­le, die durch eine Ver­le­gung in ein Kran­ken­haus ent­ste­hen kön­nen, wie bei­spiels­wei­se mas­si­ve (Re-)Traumatisierungen.

Dazu hat der BdB eine Stel­lung­nah­me abge­ge­ben. BdB-Jurist Kay Lüt­gens: „Es ist zu befürch­ten, dass ers­te Aus­nah­men vom Ver­bot einer ambu­lan­ten Zwangs­be­hand­lung zu einer Art „Damm­bruch“ füh­ren könn­ten, weil eine Behand­lung im eige­nen Wohn­um­feld von Drit­ten als eine weni­ger ein­schnei­den­de Maß­nah­me ange­se­hen wird.“ Eine strik­te Ableh­nung von Locke­run­gen bedeu­tet jedoch auch, dass ein­zel­ne Men­schen im Inter­es­se einer Mehr­heit qua­si „geop­fert“ wür­den. Kay Lüt­gens erläu­tert: „Ein­zel­ne Per­so­nen wer­den enor­men Stra­pa­zen aus­ge­setzt, ver­bun­den mit gra­vie­ren­den gesund­heit­li­chen Nach­tei­len, nur um eine ambu­lan­te Zwangs­be­hand­lung grund­sätz­lich zu ver­mei­den.“

In die­sem Span­nungs­feld kann sich der BdB eine mode­ra­te Locke­rung der jetzt gel­ten­den Regeln vor­stel­len – jedoch nur unter sehr stren­gen Vor­aus­set­zun­gen. Der BdB hält es bei­spiels­wei­se für ange­bracht, neben dem der recht­li­chen Betreuer*in spe­zi­ell geschul­te Fachbetreuer*innen ein­zu­set­zen.

Eingriff in Grundrechte

Ver­bands­ju­rist Kay Lüt­gens: „Jede Zwangs­maß­nah­me – ob ambu­lant oder sta­tio­när – ist ein gra­vie­ren­der Ein­griff in die Grund­rech­te des Ein­zel­nen. Grund­sätz­lich ist Zwang mit Arti­kel 14 der UN BRK, der das Recht auf per­sön­li­che Frei­heit und Sicher­heit von Men­schen mit Behin­de­run­gen garan­tiert, unver­ein­bar. Ein grund­sätz­li­cher Wan­del im Umgang mit Zwang ist not­wen­dig, um die Rech­te und Wür­de der betreu­ten Per­so­nen zu schüt­zen.“ Es sei des­we­gen kei­ne Opti­on neue­re „mil­de­re“ For­men von Zwang zu eta­blie­ren.

Es sei grund­sätz­lich die Alter­na­ti­ve zu wäh­len, die den Ein­zel­nen am wenigs­ten belas­te, sagt Kay Lüt­gens: „Jede*r Bürger*in hat ein Recht auf Schutz. Zwangs­maß­nah­men sind aus unse­rer Sicht nur dann zuläs­sig, wenn sie die Betrof­fe­nen geringst­mög­lich belas­ten und tat­säch­lich nötig sind, um schwers­te gesund­heit­li­che Schä­den zu ver­mei­den – eben als ulti­ma ratio!“

Hemmschwelle könnte sinken

Seit Jah­ren kämp­fen Pfle­ge­ein­rich­tun­gen mit dem Fach­kräf­te­man­gel. Der BdB warnt vor der Gefahr, dass Zwang bei Locke­run­gen im ambu­lan­ten Kon­text nicht nur als ulti­ma ratio ein­ge­setzt wer­den könn­te, son­dern „als güns­ti­ge Stra­te­gie für die Ver­sor­gung ‚schwie­ri­ger‘ Per­so­nen­grup­pen. Dies könn­te dazu füh­ren, dass die Hemm­schwel­le für Bean­tra­gung und gericht­li­che Geneh­mi­gung von Zwangs­be­hand­lun­gen sinkt“, so Lüt­gens wei­ter.

Mehr Informationen

www.berufsbetreuung.de | | BdB-Ver­gü­tungs­kam­pa­gne | Lin­ke­din

Über den BdB

Der Bun­des­ver­band der Berufsbetreuer*innen (BdB) ist mit 8.000 Mit­glie­dern die größ­te Inter­es­sen­ver­tre­tung des Berufs­stan­des. Er ist die kol­le­gia­le Hei­mat sei­ner Mit­glie­der und macht Poli­tik für ihre Inter­es­sen. Er stärkt sei­ne Mit­glie­der dar­in, Men­schen mit Betreu­ungs­be­darf pro­fes­sio­nell zu unter­stüt­zen, ein Leben nach eige­nen Wün­schen und Vor­stel­lun­gen zu füh­ren – selbst­be­stimmt und geschützt.

Der BdB wur­de 1994 gegrün­det – zwei Jah­re, nach­dem mit dem Betreu­ungs­ge­setz Kon­zep­te wie „Ent­mün­di­gung“ und „Vor­mund­schaft“ für Erwach­se­ne abge­löst wur­den. Bereits damals lei­te­te ihn der Gedan­ke, Men­schen mit Betreu­ungs­be­darf in Deutsch­land pro­fes­sio­nell zu unter­stüt­zen, so dass sie ein mög­lichst selbst­be­stimm­tes Leben füh­ren kön­nen.

Mit sei­ner fach­li­chen Exper­ti­se und viel Idea­lis­mus setz­te sich der Ver­band bereits früh­zei­tig für mehr gesell­schaft­li­che Teil­ha­be betreu­ter Per­so­nen ein, wie sie erst spä­ter gesetz­lich ver­an­kert wur­de. Han­deln und Ent­schei­dun­gen der BdB-Mit­glie­der basie­ren auf dem­sel­ben huma­nis­ti­schen Men­schen­bild, das auch der UN-Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on von 1948 und der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on von 2006 zugrun­de liegt.

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