Eine Dokumentation von Dirk Schneider und Ariane Riecke

Erstausstrahlung: 22.01.2025 um 20.15 Uhr | MDR Fernsehen

Online: 22.01.2025 | ARD-Mediathek

„Herkunft klebt wie Scheiße am Schuh“, sagt Marlene Hobrack aus Bautzen.
© MDR/Hoferichter & Jacobs GmbH

Warum müssen wir über Klassismus reden?

Aktuelle Daten zeigen: In Deutschland braucht es laut Schätzungen der OECD sechs Generationen, um aus der Armut in die Mitte aufzusteigen – in Dänemark sind es zum Beispiel nur zwei Generationen. Kaum irgendwo sind die Aufstiegschancen so ungleich verteilt wie hier.

Persönliche Geschichten von Hindernissen, Herkunft und schweren Aufstiegen stehen im Zentrum der Dokumentation „You can win if you want? – Das falsche Versprechen vom Aufstieg“.

Jörg Theobald hat sein Studium auf dem dritten Bildungsweg abgeschlossen.
© MDR/Hoferichter & Jacobs GmbH

Über die Biographien von Jörg Theobald, Marlen Hobrack und Natalya Nepomyashcha erzählt der Film den Hürdenlauf dreier Protagonist:innen, die aus ihrer Klasse aufsteigen wollen und dabei vielfältigen Hindernissen begegnen, denen immer mehr junge Menschen heute ausgesetzt sind: Fehlendes Geld, fehlendes Selbstbewusstsein, fehlende Beziehungen – Abwertung und Vorurteile. Sie nehmen uns mit zu den Schauplätzen ihres Aufwachsens – in Haupt- und Realschulen, Plattenbauviertel, Bafög-Ämter und Bibliotheken. Sie erzählen davon, wie schwer es ist, sich das soziale und kulturelle Kapital zu erkämpfen, das man braucht, um sich eine lebenswerte Zukunft zu sichern.

Eindrücklich werden die gläsernen Decken durch eine Gegenüberstellung. Einblicke in die Lebensrealitäten von Scott Wempe und Stephanie zu Guttenberg zeigen die andere Seite dieser Medaille. Als Erbe des Schmuckunternehmens seiner Familie wurden Scott die Mittel zu seinem prestigeträchtigen Bildungs- und Karriereweg in die Wiege gelegt. Stephanie zu Guttenberg, geborene Gräfin, Unternehmerin und Autorin reflektiert im Vergleich zu ihrer eigenen Schullaufbahn, dass die Förderung von Kindern aus prekären Verhältnissen gerade heute viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Selbst sie spüren: Deutschland klafft immer weiter auseinander – und erzählen, warum sie sich entschieden haben, sich aus ihrer Position heraus für Chancengerechtigkeit zu engagieren.

Die gläserne Decke hält

Cawa Younosi © MDR/Hoferichter & Jacobs GmbH

„Thomas stellt immer Thomas ein”, sagt Cawa Younosi, Ex-Personalchef von SAP, der seine Karriere nach seiner Flucht aus Afghanistan nach Deutschland und einer schwierigen Bildungsgeschichte aufgebaut hat. Oder, wie Marlen Hobrack meint, aufgewachsen als Arbeiterkind in Ostdeutschland: „Herkunft klebt wie Scheiße am Schuh.“

Chancengleichheit ist einer der Grundpfeiler unserer Demokratie – er wackelt

Die einordnenden Kommentare der Sozialforscher:innen Martyna Linartas, Michael Hartmann und Marcel Helbig, die die Erzählungen mit Zahlen und Fakten unterlegen, machen klar, warum das so ist: Deutschland ist ein Land, in dem Herkunft und familiärer Hintergrund heute stärker über Zukunftschancen entscheiden als individuelle Leistung und Einsatz. Hierzulande dauert es sechs Generationen, um aus der Armut in die Mitte aufzusteigen – in Dänemark sind es nur zwei. Die Schulform und das Studium sind in Deutschland bis heute in einer steilen Hierarchie aufgebaut und neuste Daten zeigen: Eine bessere Ausbildung ist zunehmend nur noch käuflich zu erwerben. Diese Spielarten der Chancenungleichheit aufgrund der sozialen Herkunft sind das zentrale Thema der Dokumentation.

Verspielt Deutschland seine Demokratie?

Natalya Nepomnyashcha und ihr Netzwerk Chancen © MDR/Hoferichter & Jacobs GmbH

Die Dokumentation stellt Fragen: Was kostet es heute, aufsteigen zu wollen? Wer bestimmt in Deutschland über die Verteilung von Chancen und Ressourcen? Wie sehr leben diese Menschen abgeschirmt von den Alltagsproblemen der Mehrheit? Was ist geworden aus dem Aufstiegsversprechen der alten Bundesrepublik und dem Grundrecht auf freie Bildung?


Auf diese Fragen muss die Demokratie eine Antwort finden. Sonst gerät sie selbst in Gefahr.